Marc Wittmann

Dr. Marc Wittmann, Jahrgang 1966, studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Fribourg, Schweiz. 1997 promovierte und habilitierte er am Institut für Medizinische Psychologie der Medizinischen Fakultät der Universität München unter Prof. Ernst Pöppel. 1998 erhielt Wittmann den Peter-Jacobi-Preis der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie, zwischen 2000 und 2004 leitete er in Bad Tölz das Generation Research Programm des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2004 bis 2009 war Wittman als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Department of Psychiatry der University of California in San Diego USA tätig. Gegenwärtig arbeitet er am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene an der Universität Freiburg. Seine Forschung konzentriert sich auf die Zeitwahrnehmung als Indikator für kognitive Funktionen und Emotionen.

Essay von Marc Wittmann über Raum, Zeit und Architektur
"Zeit im Raum fühlen: Inwiefern Architektur immer auch die Zeit meint"

Architektur befasst sich mit Raum. Architekten haben die Fertigkeit der Errichtung und Gestaltung von Bauwerken erlernt. Ein Bauwerk lässt sich dabei selbst als dreidimensionales Objekt im Raum beschreiben. Zeichnungen auf Papier, Computeranimationen und das reale Objekt belegen diese Tatsache. Auf den ersten Blick scheint die Ausrichtung des Architekten auf den Raum ganz selbstverständlich. Wenige Überlegungen zeigen aber, dass der Aspekt der Zeit untrennbar mit dem gebauten Raum verbunden ist. Mindestens drei zeitliche Aspekte lassen sich unterscheiden. Zum einen der Einfluss des Raumes auf den unmittelbar erlebten Zeitverlauf des Betrachters, jetzt und bezogen auf Sekunden und Minuten. Zum anderen die wahrgenommene Zeit als das Alter des Bauwerkes, das Begreifen von langen Zeiträumen, die Veränderlichkeit der Welt über Jahre oder gar Jahrtausende. Und schließlich der Aspekt von Zeitlosigkeit in den Gestaltprinzipien des Bauens. Schönheit ist etwas zutiefst Menschliches, das Individuum transzendierendes. Menschen über alle Zeitalter sind denselben existentiellen Gegebenheiten ausgesetzt, die sich in der Architektur niederschlagen. Der Architekt ist also ein Gestalter von Zeit und Raum.

Die unmittelbar erlebte Zeit. Schon über die statische Zeichnung eines Grundrisses wandern meine Augen und Finger über die Zeit hinweg. Mit der Computeranimation eines künftigen Wohnsitzes fliege ich durch die Räume. Ich erfasse das Ganze nur über die Zeit. Beim Durchmessen der realen Räumlichkeiten spüre ich den Zeitraum den es braucht, um das Haus zu erkunden. Es ist ganz körperlich, wenn ich außer Atem beim Auf- und Absteigen der Treppen bin und ganz verfroren wegen der Kälte, die den Rohbau durchdringt. Raum, Zeit, Körper. Der architektonische Raum, wenn er ein Warteraum ist - funktional in Behörden und Krankenhäusern -, ist ganz unmittelbar ein Zeitraum. Die zeitliche Qualität steckt schon im Wort Warten. Wie die Forschung zeigt, schätzen Menschen die durchlebte Wartezeit in Abhängigkeit der Gestaltung des Raumes unterschiedlich lang ein. Enge Räume ohne die Möglichkeit des Abschweifens des Blickes in eine Ferne, sei es durch ein Fenster in die Natur oder ein Bild, werfen uns auf uns selbst zurück, wir achten mehr auf die ablaufende Zeit und sie dehnt sich. Ein Raum mit Fluchten, die das Gefühl von Weite ermöglichen, schafft eine Zukunftsperspektive, die uns von uns selbst ablenkt und damit die Zeit schneller ablaufen lässt. Das ist unmittelbares Erleben von Zeit im Raum.

Die Zeit im Sinne des Alters eines Bauwerkes. Der Architekt Juhani Pallasmaa konstatiert, dass die heutige Architektur zu sehr über den Sehsinn verstanden wird. Bauwerke werden heute häufig konzipiert als wären sie schnappschussartige visuelle Bilder, Momentaufnahmen.

In der modernen Architektur herrschte oft Uniformität von Licht und Farbe sowie Flachheit der Materialien vor. Ein Bewohner kommt in der Momentaufnahme solch einer Polaroidfoto-Konzeption des Bauens nicht vor (das ist flache Zeit). Im Gegensatz dazu stünden über die Zeit erlebte, den Menschen und seine Bedürfnisse verkörperte Dimensionen eines Gebäudes, das über haptische Oberflächen ausgedrückt würde, über sich verändernde Lichtsituationen oder den bewussten Einbezug von Verwitterung und Abnutzung (das ist tiefe Zeit). Ein Haus ist ein Lebensort, der die Bewohner in ihrem Leben begleitet. Ein Haus ist gelebte Zeit von Jahrzehnten für eine Person und darüber hinaus für viele Generationen. Das bedeutet, die Lebenszeit der Menschen muss Berücksichtigung finden, wenn Architektur als Lebensort überdauern soll.

Zeitlosigkeit beim Bauen. Um es mit dem Architektur- und Kunstphilosophen Karsten Harries zu sagen: Ein Wohnort ist nicht nur die Abgrenzung von Raum als Bollwerk der Sicherheit nach außen (mein Heim als Schutzort). Er ist auch eine Instanz zur Absicherung gegen den „Terror der Zeit“, unserer existentiellen Verletzlichkeit, letztendlich bezogen auf unseren eigenen Tod. Unser Heim lässt uns unsere existentielle Fragilität vergessen. Hier eine weitere These von Harries: Die Sprache der Schönheit ist die Sprache einer zeitlosen Realität. Zeitlos meint hier, dass Gestaltung und Bauen idealerweise Prinzipien folgen, die nicht an eine bestimmte Mode oder Epoche gebunden sind. Das Gefühl der Absicherung gegen die Zeit und den Raum ist an Prinzipien gebunden, die sich in jeder Ära finden lassen. Natürlich unterscheiden sich Epochen in kulturbestimmenden Aspekten. Das ist die Kunstgeschichte. Aber es gibt unterliegende Gestaltregeln für gelungene Architektur, die zeitlos, d.h. überdauernd sind und die sich auch in gelungenen zeitgenössischen Bauwerken finden lassen. Das ist die Aufgabe der jeweilig neuen Generation an Architekten: Findet diese zeitlosen Gestaltprinzipien.

Baut Häuser, die das tiefste Innere des Menschen berühren, seine Existenz. Diese Aufgabe hast Du, Jakob, von Anfang an erfasst, wie Deine Projekte belegen. Du bist ein Gestalter der Zeit. Und Du erschaffst Objekte, die zeitlos gültig sind.