Max Scharnigg

Max Scharnigg, Jahrgang 1980, arbeitet als Journalist und Schriftsteller in München. Er gehört zur Redaktion der Süddeutschen Zeitung, Ressort Stil, und ist Kolumnist beim SZ-Magazin. Sein Romandebüt „Die Besteigung der Eigernordwand unter einer Treppe“ (2011) erhielt mehrere Auszeichnungen. Sein letzter Roman "Der restliche Sommer" dreht sich um das Leben in einer urbanen Dystopie und die Sprengung einer Bio-Bäckerei.

Essay von Max Scharnigg über den idealen Architekten

Als ich den Architekten Jakob Bader vor 15 Jahren zum ersten Mal begegnete, waren wir beide zwar furchtbar jung aber, wie das so ist, auch schon furchtbar ernsthaft. Er hielt damals aus architektonischer Überzeugung seit einem Jahr einen liebenswerten Nachkriegspavillon in der Gabelsbergerstraße besetzt, eines der wenigen unverbauten Überbleibsel der Zeit in der Münchner Innenstadt. Dieser „Kultur Kiosk“, in dem Bader Lesungen und Diskussionsrunden stattfinden ließ und dazu Flaschenbier verkaufte, war ein idealistisches Projekt und schon eine Vorschau auf das, was uns beide in den kommenden Jahren unabhängig voneinander beschäftigen würde - Freiräume in einer hochverdichteten Stadt zu finden, die Wucht der Bauwut und des architektonischen Wandels zu moderieren und über die kulturelle Partizipation des Einzelnen am Stadtgeschehen nachzudenken. Ich interviewte Jakob damals für das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, entstanden ist daraus ein eher trauriger Text, denn schon beim Erscheinen war es klar, dass der Kulturkiosk einen Termin mit der Abrissbirne haben würde.

(…) Jakob Bader ist selber ein Bauhaus-Typ. Groß, klar, schnell, mit Hemd aber ohne Gürtel, an diesem Morgen in Regenmünchen. Er sitzt in seinem Büro und spricht ohne Ansatz über Brühkaffee und Kriegsende, Bedenkenträger und die neue Moderne und dass er im Oktober aus dem Kulturkiosk ausziehen muss. Aber das ist nicht so schlimm, er redet schon wieder über anderes: holländische Architektur, Familienwürde und Reformverständnis in Deutschland. Er ist froh über sein Jahr im Kulturkiosk, weil es richtig war: er, in diesen Räumen, mit diesen Menschen. Und wenn jetzt die kleine Lücke an der Gabelsbergerstraße geschlossen wird, entspricht das eben dem, was man ein vernünftiges städtebauliches Gesamtbild nennt.

So klang das 2004. Der Artikel konnte das Projekt nicht mehr retten, aber einen Nutzen hatte er trotzdem. Ich traf den Architekten ohne Gürtel von da an regelmäßig. Wir saßen nach Feierabend bei einem Bier in Schwabing und kamen dabei stets vom Naheliegenden auf das Entfernteste und wieder zurück. Das war einfach, denn Jakob verfügt über eine ziemlich seltene Wesensart, neudeutsch ausgedrückt könnte man sagen, er hat eine sehr gute Konnektivität.

Man konnte jedenfalls aus den unterschiedlichsten Situationen kommend bei ihm andocken und er fing sofort aus dem Stegreif an, weiter zu denken und interessanter noch - immer gleich eine eigene Haltung auszuloten. In einer Generation, die das Abdämpfen, Offenhalten und Nivellieren fast schon verinnerlicht hat, ist das eine ebenso ungewohnte wie wohltuende Eigenschaft. Ein Mann der begründeten Entscheidung, eine Waagschale, in die man alles werfen konnte, um dann gemeinsam das Gewicht zu bestimmen.

Mit Jakob wird stets alles auf einmal relevant, die ganze Welt steht immer auf dem Prüfstand, nichts ist gesetzt. Es waren atemlose Abende, nicht sehr entspannend, aber immer höchst unterhaltsam. Am nächsten Tag hatte ich meist mentalen Muskelkater, aber auch einen geweiteten Blick.

Ohne es zu wissen, formte er mit dieser Wesensart mein Bild vom idealen Architekten als Allrounddenker und stabilen Meinungsbesitzer. Dieses Bild erscheint mir nur folgerichtig - ein Mensch, der qua Beruf bestrebt sein muss, alles auf ein tragfähiges Fundament zu stellen, setzt diese Denkart eben auch nach Feierabend fort. Egal, ob es nun zwischenmenschliche oder politische Ansichten, flirrende Alltagsbeobachtungen oder Lebensentscheidungen betrifft. Ein guter Architekt hat es verinnerlicht, Vorgefertigtes und Vorgefundenes kritisch zu prüfen, stets die Strukturen abzuklopfen und darüber hinaus seine Umwelt sowohl aus der ästhetischen wie funktionalen Perspektive zu betrachten. Dieses Training macht Architekten zu wichtigen Figuren im Stadtgefüge und zu gesellschaftlichen Scharnieren, deren Stimme eigentlich viel öfter im allgemeinen Diskurs gehört werden sollte. Denn sie kennen nun mal die Suche nach Schönheit ebenso gut wie die Niederungen des Alltags und der Statik, sind darüber hinaus im Umgang mit Bauarbeitern, Behörden und Bauherren geschult und wissen auch viel von Diplomatie und Enttäuschungen. Alle Architekten und Designer, die ich seither traf, sind in diesem Sinne interessante Gesprächspartner (und aufmerksame Beobachter) auch jenseits ihres eigentlichen Faches gewesen. Aber nicht alle sahen sich selbst gerne in jener Rolle des Weltveränderers und gesellschaftlichen Baumeisters, die der junge Mann mit dem Büro in der Amalienstraße von Anfang an ganz selbstverständlich auf sich nahm.

In Jakobs Fall hatte ich insgeheim manchmal den Eindruck, dass er unter der Nicht-Perfektion der Welt und dem Erkennenmüssen dieser Mängel auch ein bisschen litt. Aber genau das machte ihn eben bei allen Themen zur wertvollen Kompassnadel. Wer den Lebensraum der Menschen verändern möchte und damit eine Verantwortung übernimmt, die über die der meisten Berufe hinausgeht - mit Entscheidungen nämlich, die für die Menschen auch in fünfzig Jahren noch unmittelbare Relevanz haben sollen - braucht eine solche universale Konnektivität und Empfänglichkeit. Wenn man so möchte, wurde mir die Tragweite des Architektenberufes an unseren Abenden im Biergarten überhaupt erst bewusst. Vom kleinsten Detail bis ins große Ganze ging es dabei, genau wie tagsüber auf Jakobs Schreibtisch, an dem ich ihn gelegentlich abholte. Das gilt bis heute: Nichts bleibt von ihm unhinterfragt, alles wird neu gezeichnet. Er ist dabei streitbar im besten Sinne, nämlich heftig in der Sache und wieder mild, sobald es um anderes geht. Er kann fürchterlich poltern und im nächsten Moment polternd lachen. Ich weiß noch, wie irritiert ich bisweilen war, wenn er zutiefst bürgerliche Ansichten mit radikal-anarchistischen Ideen kreuzte, um daraus eine unerhörte und vor allem eigene Vision zu konstruieren.

Das Ringen um das Moderne, bei gleichzeitigem Wissen um das Alte, das war so ein Thema, an dem wir uns immer wieder trafen.

Die verkrustete Bauordnung der Stadt, der beschämende Kleingeist der Anwohner, die alberne Verliebtheit der Deutschen in ihre Heizung, die er nur widerwillig in seine Pläne zeichnete - das alles waren letztlich Symptome seiner sehr offenen und bis heute andauernden Auseinandersetzung mit der Metaebene „Architektur“.  Klar, dass eine Stadt wie München eigentlich zu eng, zu endgültig kartographiert war, um ihn austoben zu lassen. Um so mehr war es eine Freude, dabei zuzusehen, wie seine ersten Projekte in diese Stadt geboren wurden - an seinen ulkigen Fensterblenden mit Kastanienblättern fahre ich noch heute jeden Tag vorbei. Eine andere Erinnerung: Wie Jakobs erstes und radikal rotes Einfamilienhaus als Kulisse eines Fernsehkrimis in die Sofalandschaften der Republik gebombt wurde - von den Filmmenschen natürlich als Inbegriff einer urbanen (und auch halbwegs verdächtigen) Lebensart gedacht. Das war genau das, kam mir vor, worüber wir oft gesprochen hatte - Neues (das rote Haus) mit Altem (Fernsehkrimipublikum) kollidieren lassen und zusehen, welche Energie dabei freigesetzt wird. Bumm oder Boom, Aua oder Aha? Ich glaube, es ist für alle Gestalter wichtig, diese Reibung an ihrer Arbeit konstruktiv wahrzunehmen. Und um die Unmittelbarkeit seiner Ergebnisse zu erleben, gehört der Architekt auf die Straße und sichtbar in die Mitte der Gesellschaft. Er muss ja nicht gleich Flaschenbier verkaufen, aber es schadet auch nicht.

Dass aus diesen Anfängen für das Büro Bader heute Großprojekte wie das gerade entstehende Hotel am Hauptbahnhof gewachsen sind, erscheint mir auf die schöne Art unglaublich, wie plötzlich groß gewordene Kinder von Freunden. Man sieht es, schaut ungläubig genauer hin und begreift schließlich, dass es wahr sein muss, denn man sieht vertraute Details. Und erkennt, dass zwar Zeit vergangenen ist, man aber dabei vielleicht nicht zwingend älter geworden ist.